Vertigo1958

Hitchcocks „Vertigo“ endlich entschlüsselt!

Vertigo in der Analyse: Fiona G Schott deckt ein Rätsel auf

Seit über 65 Jahren rätseln die Cineasten weltweit über die tiefere Bedeutung von Hitchcocks Meisterwerk „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ (USA 1958), was teilweise zu erstaunlichen philosophischen Blüten geführt hat, nicht aber zu tiefer gehenden oder erschöpfenden Aufschlüsselungen. 


„Die Meldung vom 24.03.2023, dass das Werk neu verfilmt werden soll, hat mich so geärgert, dass ich die komplette Lösung des Rätsels endlich einmal zu Papier gebracht habe“, berichtet die Filmkennerin Fiona G. Schott. Sie will ihre Interpretation von „Vertigo“ mit den Hitchcock-Fans und allen Anhängern dieses außergewöhnlichen Thrillers teilen. Ihren detaillierten Aufsatz „Die sieben Siegel von Vertigo“ stellen wir allen Cineasten zum Download zur Verfügung und laden die Filmfreunde ein, ein bisschen tiefer in die Welt von Scottie und Madeleine und von Meister Hitchcock einzutauchen. 


Sie meinen, das ist alles zu weit hergeholt? Wir wollen auch zur Diskussion anregen und nehmen gerne Reaktionen über das Kontaktformular (Link siehe Seitenfuß) entgegen. Und wer den Spielfilm-Klassiker noch einmal auf der großen Leinwand sehen will, besucht am Mittwoch, 18. September, um 20.15 Uhr die Vorführung im Preetzer Capitol-Kino!

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Fiona G. Schott: Endlich entschlüsselt:
Die sieben Siegel von Hitchcocks „Vertigo“

Vorbemerkung

Am 24.3.2023 ging die Schock-Nachricht um die Welt: „Vertigo“ soll neu verfilmt werden! Gab es
bisher noch irgendwelche Zweifel, dass Hollywood keinerlei kreative Kraft mehr hat? Stand
eigentlich schon fest, dass dort seit Jahren Unbegabte keine Kunst mehr schaffen, sondern aus
vorgefertigten Elementen (Buntes Kostüm plus special effects, Julia Roberts plus drei schale
Scherze etc.) am Reißbrett Gelddruckmaschinen zusammen schustern, so fuchtelt der panische
pazifische Palliativpatient jetzt in seiner Todesangst hilflos um sich und ergreift mit seinen
abscheulich verunstalteten, leprösen Klauen das Höchste, um es mit sich in den Abgrund zu reißen.
Das Heiligste soll geschändet werden, ich nehme sogar das Wort 'Gotteslästerung' in den Mund.
Denn wer „Vertigo“ für einen Film hält (Hitchcocks eigenes „It's only a mooooovie“ war Ironie!
Hallo?!), der meint auch, die Dolomiten seien eine Landschaft.
Höchste Zeit also, zu zeigen, dass dem nicht so ist: „Vertigo“ ist nichts weniger als ein Schlüssel
zum Verständnis der menschlichen Existenz. Allerdings hat der Meister den Schlüssel mit sieben
Siegeln versehen, die bislang noch nie komplett aufgebrochen wurden.

0.
Das Werkzeug: Der Vertigo-Effekt
Ungefähr bis zur Hälfte lassen sich die sieben Siegel durch rationales Denken öffnen, irgendwann
stößt dieses an eine Mauer, wo es so nicht mehr weiter geht: Warum hat „Madeleine“ vor dem Fall
der Ehefrau geschrien? Wie kam Scottie von der Regenrinne?
Das Werkzeug für den weiteren Weg stellt der Film wie ein Metallbaukasten, dem ein
Schraubenzieher beiliegt, selbst zur Verfügung: Den Vertigo-Effekt, also fern und nah sehen,
genauer und ungenauer sehen, und das gleichzeitig. Der Vertigo-Effekt symbolisiert die
künstlerische Vorgehensweise, die Abstraktion, oder auch Verfremdung genannt (bei Brecht
bezeichnenderweise „V-Effekt“). Dem Künstler schwebt beim Schreiben eines Romans eine Person
vor, die im realen Leben Schuster ist, im Roman taucht sie verfremdet auf und ist dort Frisör. Das
funktioniert für alles, was der Künstler darstellen will und vor allem für alles, was er nicht
darstellen will, sondern was sich unterbewusst in das Kunstwerk hinein geschlichen hat. Die Mutter
des Künstlers war immer feindselig zu seinen Freundinnen? Er schreibt einen Roman, in dem die
Mutter eine Frau tötet, für die sich der Held interessiert.
Und so wie die Abstraktion zum Kunstwerk hinführt, führt sie auch zu dem, was der Verstand nicht
entschlüsseln kann zurück. Wir müssen also den Vertigo-Effekt rückwärts benutzen, die
Entsiegelung ist eine Art Rückübersetzung.
Irgendwann wird auch diese Rückübersetzung schwierig, es hilft hier nur noch die „positivistische“
Methode der Interpretation. Positivistisch bedeutet, dass wir Fakten aus der Realität benutzen, in
erster Linie natürlich Fakten den Autor selbst betreffend.
Um zu wissen, wie Hitchcock selbst gedacht hat, wie er selbst genauer und ungenauer gesehen hat,
ist es unerlässlich, zu wissen, dass er auf einem katholischen College war, wo er Latein gelernt hat
(Spoto, Seite 41) und in den 20er Jahren in Deutschland arbeitete, wo er so perfekt deutsch gelernt
hat, dass er es 40 Jahre später immer noch beherrschte (Frankfurter Stammtisch mit Hitchcock,
youtube).
In einer Regieanweisung zu „Topas“ weist er die deutsche Schauspielerin Karin Dor an, auf der
Szene zu dem „eingelaufenen Pullover“ zu gehen (Chandler, Seite 356). Sie überlegt, was
„einlaufen“ heißt, kommt auf englisch „shrink“, Vergangenheitsform „shrank“ und weiß nun, dass
sie zu dem „Schrank“ gehen soll. Kein Beispiel zeigt deutlicher, wie Hitchcock um jede nur
erdenkliche Ecke denkt, um am Ende beim einfachsten und naheliegendsten zu landen. Wichtig
hier: Der Witz geht nicht 100%ig exakt auf, er funktioniert hier z.B. nur im Gesprochenen,
geschrieben bleibt ein unaufgelöster Rest: „shrank“ ist nicht gleich „Schrank“. Das Ungenauer-
Sehen ist also ebenso wichtig wie das Genauer-Sehen.
Nehmen wir dazu ein Übungsbeispiel aus Vertigo: Carlotta heißt nicht „Gonzalez“ oder „Ramirez“,
sie heißt „Valdes“, höchst verdächtig mit „s“ statt „z“. Slang–englisch und ungenauer gelesen also
„a lotta Valdeaths“ und damit deutsch „eine Menge Fall-Tode“: Der Inhalt des Films!
Wenn wir nun wissen, wie unser Werkzeug, der Vertigo-Effekt, genau funktioniert, können wir
damit arbeiten:
In „Über den Dächern von Nizza“ verrät schon der Titel die Auflösung des Rätsels, nämlich, dass es
zwei Katzen gibt: „To catch a thief“, genauer und ungenauer gelesen: „Two cat...“ und „Two c... a...
t...“.
Und dass es im Subtext des Films um eine Tochter geht, die ihren Vater inzestuös provoziert, u.a.
indem sie ihn kopiert, zeigen nicht nur die eindeutigen verbalen Angebote, etwa auf dem Ponton,
und der Ausspruch von Robie im Weinkeller: „Du sollst auf Deinen Vater hören!“, sondern auch die
beiden geringelten Pullover und die spiegelbildlichen Scheitel in der Bootsszene, der Name der
Tochter „Foussard = Halstuch“, das Cary Grant ständig „am Hals hat“ und ihr Schrei, als sie an
seiner Hand baumelt: „pére (= franz. „Vater“) -tani“.
In „Das Fenster zum Hof“ glotzen wir ständig auf die Hausrückseite, ohne zu erkennen, dass es sich
auch um ein Karte von Europa handelt, angesichts derer die Amerikaner sich ständig fragen, ob sie
die ungeheuren Berichte über den Holocaust glauben sollen oder nicht (Jeffries entspricht dabei
dem Drehbuchautor Ben Hecht, der mit selbst bezahlten ganzseitigen Zeitungsanzeigen versuchte,
seine amerikanischen Mitbürger vom Holocaust zu überzeugen, als diese noch mehrheitlich an ein
Schauermärchen glaubten). Schließlich heißt der Mörder hier ja auch nicht „John Smith“ oder
„James Miller“, sondern „Lars Thorwald“, was wie die blondgefärbten Haare des Hünen (Hunnen)
auch eine Anspielung auf die Deutschen ist, die die Juden (ihre Ehefrau) umbringen.
Und in „Der Mann der zu viel wusste“ fragt sich jeder Zuschauer, warum der Arzt seine Ehefrau
nach der Entführung des Jungen mit einem Beruhigungsmittel ausknockt. Die Antwort ergibt sich,
wenn man sich von der Handlung löst: Dann sieht man, dass die Entführung auch eine Fehlgeburt
symbolisiert (wobei Bernard für das tote Baby steht) und die Szene in der Botschaft auch eine
spätere Problemgeburt darstellt (hier steht der nur verletzte Botschafter für das überlebende Baby).
Wer es nicht glaubt, der verfolge die rote Spur (Nabelschnur) durch die Botschaft, die von der
schreienden (gebärenden) Mutter zu dem eingesperrten Kind führt, das der Arzt schließlich aus dem
roten Zimmer (Gebärmutter) befreit.
Um Hitchcock bei „Vertigo“ komplett auf die Schliche zu kommen, müssen wir uns also von der
Handlung lösen und einmal locker den Kopf schütteln.
Truffaut war es, der „Vertigo“ einen „Krankenbettfilm“ genannt hat, wobei er meinte, dass wir den
Film am besten im Kopf vor- und zurückspulen, um ihm näher zu treten. Und es ist wahr. Sehen wir
den Film, gehen wir dem dichten Schleier, den der Meister um seinen tieferen Sinn gewoben hat,
der falschen Fährte, sozusagen der Carlotta-Geschichte, wieder voll auf den Leim. Besser ist es, den
Film auf die eigene Festplatte im Gehirn zu kopieren und ihn dort zu sezieren.

1.
Das Siegel der Art des Kunstwerks
Das erste Siegel öffnet jeder Zuschauer beim ersten Sehen, denn das ist die Frage, um was für einen
Film es sich überhaupt handelt. Erst in der Briefszene, also nach 99 Minuten – der Länge eines
normalen Spielfilms - erfahren wir, dass wir es mit einem Kriminalfilm zu tun haben. Vorher war
von einem klassischen Mörder und Opfer schließlich keine Spur!
Das ändert sich dann beim Erreichen des Endes noch einmal. Am Schluss ist es uns völlig egal, dass
ein Herr Elster seine Frau umgebracht hat, wir erkennen nicht nur, dass wir soeben die tragischste
Liebesgeschichte gesehen haben, weil die Liebenden denkbar knappst aneinander vorbei geliebt
haben, wir erkennen plötzlich auch eine Form, die sich majestätisch vor uns aufgebaut hat: Fast alle
Interpreten sprechen bei Vertigo von der „ersten“ und der „zweiten Hälfte“ (etwa Kluy, Seite 64 und
65). Selbst Zizek spricht vom „ersten und zweiten Teil“ (S. 175). Sie übersehen dabei, dass der Film
sauber in drei Teile gegliedert ist, die jeweils mit einem Fall beginnen und enden! Diese drei Akte
sind auch inhaltlich sauber voneinander geschieden: 1. Scottie liebt Madeleine, 2. Madeleine und
Scottie lieben sich, 3. Judy liebt Scottie, Scottie liebt Judy nicht.
Wenn wir jetzt noch wissen, dass die Handlung eine Variation von Tristan und Isolde ist, worauf die
Filmmusik von Bernard Herrmann mehr als anspielt (Wörtliche Zitate aus der Tristan-Ouverture
finden sich schon bei den Verfolgungsfahrten, die Scene d´amour ist Isoldes Liebestod, nur minimal
im Takt verändert), wird uns siedend heiß bewusst, dass wir eine Oper gesehen haben, und zwar die
schönste Oper aller Zeiten - denn es hat niemand gesungen!

2.
Das cineastisch-künstlerische Siegel
Bis hierher sind schon einige Interpreten vorgedrungen (etwa das Video „Vertigo für immer und
ewig“, Youtube). Man hat allgemein erkannt, dass Vertigo der Film der Filme ist, weil er vom Film
selbst handelt. Im ersten Akt ist Scottie der Zuschauer – symbolisiert etwa durch den Rahmen der
Windsschutzscheibe. Beim Sprung in die Bucht durchdringt er die Wasseroberfläche, die für die
Leinwand steht, im zweiten Akt ist er also jetzt Schauspieler - unter der Regie von Gavin Elster.
Dass Elster ein Regisseur ist, ergibt sich aus der Gleichsetzung von ihm und Hitchcock selbst, denn
der Meister himself ist es, der gerne Kuchen isst (mag pie = engl. „Elster“).
Im dritten Akt ist Scottie schließlich selbst der Regisseur, was in den Interpretationen zu sämtlichen
bekannten Gleichsetzungen mit Hitchcock führt, der jetzt die sog. „Hitchcock-Blondine“ und damit
seine eigene „Obsession“ erschafft, etc. pp. blabla. Dieser Ansatz ist natürlich nicht ganz falsch, nur
weil er ständig nachgeplappert wird. Seine Richtigkeit ergibt sich aus der Zusammenschau der
letzten Werke des Meisters.
Nachdem das cineastisch/ künstlerische Siegel aufgebrochen ist und wir wissen, dass Madeleine die
Illusion, alle Kunst und insbesondere den Film, symbolisiert, löst sich nicht alles in Friede, Freude,
Eierkuchen auf. Denn der Regisseur/ Künstler hat ein Problem mit seinem Kunstwerk: Er weiß nun,
wie die Wurst gemacht wurde, sie schmeckt ihm aber trotzdem: In der Scene d' amour zweifelt
Scottie kurz, küsst aber dann weiter. Letztlich aus dem teuflischen Grund, weil Geruch, Geschmack
und Gefühl ja exakt die gleichen sind wie bei Madeleine!
Aber später erkennt er, dass er nur eine Kopie der Kopie geschaffen hat. Ein anderer Künstler ist
ihm also zuvor gekommen, und der war noch kreativer!
Und was ist mit uns, dem Publikum, die wir immer wieder ins Kino laufen, um uns von Madeleine/
der Kunst bezaubern zu lassen, obwohl wir wissen, dass sie nie existiert hat? Müssen wir Filme,
Kino und Kunst als irrelevant verwerfen, weil wir wissen, dass und wie sie gemacht wurden? Wie
der Mörder im Roman „Das Parfum“, der der einzige ist, den sein unwiderstehliches Parfum nicht
betören kann, weil er weiß, wie er es gemacht hat?
Vertigo sagt: Nein! Denn das Gefühl, das ein Film in uns hervorruft, ist doch echt!
Und damit ist der Film in der Lage, verdrängte Traumata aufzudecken und so auch die Möglichkeit
der Überwindung zu schaffen. Denn der Film und alle Kunst kann der zweite emotionale Schock
sein, von dem die Ärzte sagten, nur er könne Scotties Höhenangst heilen!

3.
Das sozialkritisch-politische Siegel
Dieses lässt sich nur vom Ende her aufbrechen: Am Schluss sitzt der verbrecherische Kapitalist in
Süd-Frankreich und lässt sich dort die Sonne auf den Bauch scheinen, die Mittelklasse ist völlig
desorientiert/ desillusioniert und die Arbeiterklasse liegt tot auf dem Klosterdach.
Madeleine kann also auch interpretiert werden als etwa der Konsumwunsch, der ständig in uns
geweckt wird. Für ihn sind wir bereit, unsere Lebenszeit zu opfern und uns befehlen zu lassen, um
am Ende zu erkennen, dass die noch dickere Uhr und das noch neuere Auto gar nicht glücklicher
machen.
Auf politischer Ebene kann Madeleine für alles, was uns vorgegauckelt wird, etwa das Märchen
vom Rechtsstaat, stehen. Ein brandaktuelles Beispiel: Während z.B. das neue PStTG
(Plattformensteuertransparenzgesetz) anordnet, dass mehr als 29 Privatverkäufe, also z.B. 30 alte
Briefmarken zu € 1,-, eines privaten Internetnutzers an das Finanzamt gemeldet werden müssen, mit
der Konsequenz, dass sich der Verkäufer einem Steuerstrafverfahren ausgesetzt sieht, in dem er
einen Anwalt nehmen und beweisen muss, dass er nicht gewerblich handelt, kann ein Millionär
seine Jugendstilvilla nach wie vor jederzeit für 5 bis 10 Mio. verkaufen – steuerfrei!
Die Aussage von Vertigo kann also auch politisch-negativ verstanden werden: Wir werden
verarscht! Und wir haben kaum eine Möglichkeit, uns dagegen zu wehren.
Wenn wir schon kritisch werden, dann muss an dieser Stelle leider erwähnt werden, dass Scottie
sich als erste Detektivhandlung eine Fotografie von Frau Elster hätte besorgen müssen. Dann hätte
er vielleicht eine minimale Chance gehabt, hinter das Komplott zu kommen. Er hat also schlampig
gearbeitet. Heißt: Wir müssen noch besser aufpassen!
Einen anderen sozialkritischen Ansatz hat schon Wood (Seite 382) gefunden: „The devil finds work
for idle hands“, zu deutsch etwa „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ Wäre Scottie weiter arbeiten
gegangen und hätte die (aus seiner Sicht) Millionärstochter Madeleine eine vernünftige
Beschäftigung gehabt, hätten beide keine Zeit für das „wandering“ (im amerik. Original für das
„Rumfahren“) gehabt und die Tragödie wäre nicht passiert.
Realistisch betrachtet gibt es bezüglich unserer ständigen Ausnutzung durch gewaltige Mächte nur
einen positiven Aspekt: Wir können irgendwann dahinter kommen. Dann sind wir von unserer
Gläubigkeit an das Gute der herrschenden Klasse geheilt und können von der Turmkante aus in den
Abgrund sehen, ohne dass uns schwindelig wird.
Wobei der Abgrund aber leider Abgrund bleibt!

4.
Das allgemeinmenschliche-philosophische Siegel
Die drei Stationen des Künstlers (s.o.) gelten natürlich ebenso für das Leben jedes Menschen: Erst
sind wir Zuschauer (Kindheit), dann Mitspieler (wobei wir auf alle möglichen Madeleines
/Illusionen reinfallen) und schließlich im besten Falle der aufgeklärte Regisseur unseres eigenen
Lebens (wobei das Selbstbestimmung bedeutet und nicht heißen soll, dass wir jetzt auch andere
Menschen elstermäßig hinterrücks manipulieren dürfen).
Ein anderer Aspekt ist m.E. noch nie angesprochen worden: Madeleines Anwesenheit in dem Film
stellt ein komplettes Leben dar: Das rundumrote „Ernie's“ steht für die Gebärmutter, die das Kind
schließlich verlässt. Es krabbelt (fährt) herum, bis es schließlich in der Bucht von St. Francisco
getauft wird, denn nachdem Scottie sie aus dem Taufbecken gezogen hat, gibt er ihr im Auto ihren
Namen: „Madeleine“. Sie ist ja noch nie so angesprochen worden!
In seiner Wohnung „legt er sie trocken“, „das Kind“ lernt laufen, sprechen und trinken. Dabei sind
ihre ersten Worte die denkbar allgemeinsten, die der erwachende Verstand jedes Menschen denken
sollte, nämlich: „Wo bin ich?“.
Anschließend lässt sich das älter werdende Mädchen von Jungs (Scottie) verfolgen, flirtet
schließlich sogar und fährt mit ihm in die Welt hinaus, wobei der Wald für eine Kathedrale steht, in
der die beiden heiraten, der weiße Mantel ist ihr Hochzeitskleid.
An der Küste folgen die allgemeinmenschlichsten und wahrsten Aussagen über das Leben, wie die
von dem Korridor, an dessen Ende der Tod lauert, was den Ablauf der Lebenszeit bedeutet, und dass
sie allein in einem Zimmer sitzt. Der Mensch hat erkannt, dass er allein und sterblich ist! Was jetzt
tun? Judy z.B. entscheidet sich für das Verbrechen.
Es folgt das allgemeingültigste Eingeständnis jedes Menschen: „Ich will nicht sterben“ und die
unvermeidlich-tröstliche-illusionistische Antwort des anderen: „Ich bin bei dir.“ dazu im Original:
„All the time!“.
Als ob die Liebe etwas gegen den Tod ausrichten könnte! Unsterblich sind am Menschen
schließlich nur seine (Kunst-) Werke, also u.a. der Film selbst.
Die an die Küste knallende Welle symbolisiert schließlich die Hochzeitsnacht. Madeleine verlässt
dann den Film mit ihrem Tod, dem Ende des zweiten Aktes.
Doch schmerzlich am Leben ist nicht nur der Tod, einen anderen Schmerz erzählt der Film auch
noch, den der Zeit. Damit ist nicht gemeint, dass der Film schnellen zeitlichen Vorlauf erzählt mit
einem Schwenk nach rechts (nach dem Traum) und Rücklauf erzählt mit einem Schwenk nach links
(Rooftop-Szene, dazu später).
Es ist damit gemeint die Unmöglichkeit, die Zeit zurück zu drehen. Sie wird im Film erzählt mit
Glasscheiben. Wie eine Scheibe nur durch das Sehen durchdrungen werden kann, kann die Zeit nur
gedanklich - mit Erinnern – durchdrungen werden. Nach dem Besuch der Buchhandlung geht in ihr
das Licht an, was bedeutet, dass die Vergangenheit jetzt durch Erinnern erhellt worden ist, denn Pop
Leibl hatte Midge und Scottie ja umfänglich aufgeklärt über „power“ und „freedom“. Nach
Madeleines Tod landet Scottie schmerzlich vor der Windschutzscheibe ihres Jaguars und vor dem
Schaufenster von Podesta Baldocchi, hinter dem noch böserweise ein Blumenstrauß wie Madeleines
liegt, geht er merklich in die Knie.
Die Zeit schiebt uns also wie eine Panzerglasscheibe durch unser Leben, bis wir am Ende von ihr
zerquetscht werden.

5.
Das tiefenpsychologische Siegel
Stand der Dinge in der Vertigologie ist hier wohl Wood (Seite 380), der den Polizisten als ÜBER-
ICH, den entkommenen Verbrecher als ES, und Scottie als ICH im Freudschen Sinne interpretiert.
Diese Sicht passt auch zu der Tatsache, dass Hitchcock seinen eigenen Vater schon mit 15 Jahren
verloren hat (Spoto, Seite 51).
Midge und Elster werden richtig als Mutter und (böser Ersatz-) Vater erkannt (Wood Seite 381 und
383), die Unmöglichkeit einer Beziehung zu Midge mit deren Mütterlichkeit, ihrer Eigenständigkeit
und ihrer Demystifikation der Sexualität (Seite 385) erklärt.
(Die Mutter/ Sohn Anspielungen werden in der Literatur durchweg erkannt, die witzigste ist sicher
die Bemerkung: „We once were engaged“, also „verbunden“ - durch die Nabelschnur!).
Während man diese Deutungen bis auf die Demystifikation (dazu später) so stehen lassen kann,
wird es mindestens zweifelhaft, wenn Wood meint, dass die romantische Liebe eine Regression
(Rückschritt) in das kindliche Stadium des Mannes ist (Seite 385) mit der Tendenz, die geliebte
Person als Fantasiefigur zu idealisieren, denn was ist, wenn wir den Standpunkt wechseln und uns
fragen, was Judy fühlt? Sie liebt schließlich keine idealisierte Person, sondern sie liebt Scottie, so
wie er ist!
Vertigo selbst behauptet also auch nicht, dass die romantische Liebe immer eine Illusion ist.
Zumindest ist es keine (krankhafte) Regression, wenn die Frau im geliebten Mann immer (auch)
eine Vaterfigur sucht, der Mann in der geliebten Frau (auch) eine Mutterfigur, sondern im Gegenteil
natürlich gesund.
Das führt uns zu der Geschlechterfrage, die in Vertigo problematisiert wird. Die Geschlechter
werden nicht nur durch die Raumachsen - vertikal (Mann) und horizontal (Frau) – sondern auch mit
den Farben rot und grün dargestellt (während Gelb für die Glücksmöglichkeit – Midge - und Blau -
z.B. das Tribunal - für die Realität stehen).
Die Mammut Bäume sind sequoia semper-virens, „immer grün“. Grün steht also in Vertigo für das
Männliche, da lateinisch „vir“ auf deutsch „Mann“ heißt. Die Komplementärfarbe ist rot, sie steht
für das Weibliche. Scottie und Madeleine leiden also zunächst an einer vermeintlichen
Geschlechterverwirrung, denn seine Tür ist rot, ihr Auto so grün wie der Rand ihres Abendkleides
bei Ernies!
Während Madeleines männlicher Einfluss leicht damit zu erklären ist, dass sie vollständig das
Kunstprodukt eines Mannes ist, ist es bei Scottie zunächst nicht so einfach zu erkennen, woher
seine Weiblichkeit rührt (eingehend dazu später), wir haben aber einige Anhaltspunkte, dass sie da
ist, etwa die roten Schuhe oder eben die Tür, und - sicher das stärkste Indiz - sein Korsett.
Erst durch die Rettung aus der Bucht stabilisieren sich die Geschlechter: In der Kaminszene trägt
die errettete Frau das richtige Rot, der männliche Held das richtige Grün.
Es ist auch kein Widerspruch, dass auch Judy zunächst in leuchtend grün erscheint, denn erstens ist
es eine Anspielung drauf, dass sie Madeleine war, zweitens hat sie sich schließlich im zweiten Akt
ständig bewusst dagegen entschieden, das Komplott aufzudecken, sie ist also immer noch in Elsters
Plan. Je mehr sie in der Folge ihr eigenes Spiel spielt, desto mehr legt sie das Grüne ab, ihr
Unterleib bleibt aber bis zur Rückverwandlung in Madeleine tagsüber mit einem grünen Rock
bedeckt. Das grüne Licht im dritten Akt kann als Madeleines schwindende Nachwirkung und
Scotties wachsender männlicher Einfluss gedeutet werden. Theatertechnisch symbolisiert grün
üblicherweise die Unterwelt, das Reich der Geister und Toten, wie z.B. auch in „Die Irrfahrten des
Odysseus“ von 1954. Und so hat es Hitchcock auch selbst 1905 im Theater gesehen (Spoto, Seite
32). Passt hier also auch.
Ist also alles im Lot, wenn Scottie und Madeleine die ihnen zugewiesenen Geschlechter in der
Kaminszene eingenommen haben oder gibt es eine Besonderheit? Es gibt eine, und das ist die
spiegelbildliche Beziehung der beiden. Diese wird ausgedrückt etwa durch die gegensätzlichen
Kopfrichtungen bei Ernies an der Bar, durch die Verfolgungsfahrt, die ihn zu sich selbst führt, am
deutlichsten aber wohl durch das geteilte Bild bei Podesta Baldocchi: Links Madeleines
Spiegelbild, rechts Scottie, der durch einen Türspalt in der Spiegeltür linst. Diese spiegelbildliche
Ähnlichkeit lässt sich dreifach interpretieren: Erstens als die Entsprechung, die in jeder
romantischen Vorstellung herum geistert: Madeleine ist die Seelenverwandte, die Eine, die für mich
Bestimmte, meine genaue Ergänzung, das Yin zum Yang etc. pp.
Für die Zweite müssen wir etwas ausholen: In der Hitchcock-Interpretation wird durchgängig
übersehen, dass er eine sieben Jahre ältere, große, blonde, hübsche Schwester namens Ellen hatte,
die er im Alter von acht Jahren als Anstands-wauwau zu Tanzveranstaltungen begleiten musste
(Spoto, Seite 26). Das wird ihn traumatisiert haben, denn als kleiner fetter Junge musste er
beobachten, wie begehrt seine Schwester und andere schöne Menschen waren. Madeleine ist also
nicht nur Objekt, sondern auch ein andersgeschlechtliches Ich, ein erträumtes Subjekt! Modleski
kommt diesem Umstand am nächsten, wenn sie formuliert, dass „es ist, als ob Scottie ständig mit
der Tatsache konfrontiert würde, dass die unheimliche Andersartigkeit der Frau eine Beziehung zu
sich selbst hat, dass er ihr auf eine Weise ähnelt, die unerträglich ist ...“ (Modleski, Seite 4).
Umgekehrt ergibt sich die „unerträgliche Ähnlichkeit“ auch aus dem Männlichen in Judy, das den
heterosexuellen Scottie natürlicherweise abstoßen muss. Männlich, denn sie verfolgt schließlich mit
ziemlicher power und freedom den Plan eines männlichen Verbrechers.
Die dritte Interpretation führt über die Initialen von Madeleine Elster: M.E. = ICH! (Der Witz, sich
mit den Initialen M.E. selbst zu meinen, stammt übrigens von Jack London, der seinen
autobiographischen Roman von 1908 „Martin Eden“ genannt hat). Modleski hat auch diesen Ansatz
erkannt (Modleski, Seite 4), sogar die Parallele zu „Marnie Edgar“ (!), ohne aber an dieser Stelle
die Konsequenz zu formulieren: Wir können Madeleine und Scottie auch als Teile einer Person
verstehen!
(Etwa wie in „Pretty Women“, der wohl bekanntesten Hommage an Vertigo, wo wir die Frau haben,
die Blondsein vortäuscht, den Mann, der keinen Zugang zu seinem Inneren hat (die hakende
Hotelkarte), die Höhenangst, das Einkleiden der Frau, die Treppe etc. pp. Dort heißen die
Protagonisten Vivian Ward und Edward Lewis, genauer und ungenauer gesehen – lewis als
Anagramm von lives (er lebt), vivere = lateinisch: leben - haben also beide den gleichen Namen.
Sie können daher als eine Person angesehen werden, die eine äußere und eine innere Entwicklung
durchmacht)
Beginnen wir für die Entschlüsselung von ME bei Marnie: Wir wissen, dass Hitchcock als Kind und
Jugendlicher am Fußende des Bettes seiner Mutter dieser jeden Abend Auskünfte über seinen
Tagesverlauf geben musste (Spoto, Seite 26). Marnie Edgar steht also für den Meister selbst, die
Diebstähle symbolisieren die Filme, mit denen das innere Kind sich immer wieder die Liebe seiner
Mutter erkaufen will.
Auch Spoto ist dem Meister in dieser Hinsicht schon gefährlich nahe gekommen, wenn er
formuliert: „So gilt … für Hitchcock, dass er nämlich sein ganzes Leben im Hause der inneren Welt
des Künstlers ein junges, reifes, weibliches Wesen beherbergte“ (Spoto, Seite 476).
Hitchcock innerlich also eine Frau?
Teils, teils, denn neben dem M.E. gibt es im ICH ja noch Scottie Ferguson, also S.F., ungenauer:
SELF! Damit erneuert Hitchcock nicht weniger als das bekannte Freudsche Modell: Das ICH ist
nicht eins, sondern männliches SELF und weibliches ME!
Dabei taucht ME immer wieder auf, um die Illusion zu schaffen, das Ich wäre begehrenswert wie
eine schöne Frau. Sie schafft Filme und in diesen Avatare für das SELF wie z.B. Cary Grant, aber
eben auch Avatare für das ME, die Hitchcock-Blondinen, die begehrtes Objekt und halluziniertes
Subjekt zugleich sind. Damit SELF leben kann, muss ME sterben. Wahrscheinlich handelt es sich
hier um eine natürliche Entwicklungsnotwendigkeit in jedem männlichen Ich. Nicht aber in dem des
Meisters selbst, denn sie ist die Künstlerin in seinem Ich!
Man denke bitte an die letzte Einstellung Hitchcocks in seinem Gesamtwerk!

6.
Das moralisch-theologische Siegel
Scotties Niederschläge können unschwer als Strafe für sein moralisches Vergehen angesehen
werden, denn er hat einen versuchten Ehebruch begangen. Versuch deshalb, weil Madeleine und
Elster nur in seiner Vorstellung verheiratet sind, objektiv sind sie es ja nicht.
Fraglich ist, ob Judy Beihilfe zum Mord geleistet hat, denn die eigentliche Tötung hat Elster
schließlich ohne ihre Hilfe besorgt, mindestens aber hat sie eine Begünstigung begangen.
Andererseits war ihr Carlotta-Theater unverzichtbare Voraussetzung für das Verbrechen, ohne ihr
Spiel hätte der Mord gar nicht stattfinden können. So gesehen kommt sogar Mittäterschaft in Frage.
Wie man ihre Tat juristisch genau bewerten soll, ist nicht so wichtig wie die Frage, ob der Tod dafür
eine angemessene Strafe ist.
Wenn wir im dritten Akt vor Mitleid für Judy zerfliessen, die ja soooo ein armes Opfer von Elster
war und dann durch die vergewaltigungsähnliche Rückverwandlung noch einmal zum Opfer von
Scottie wird, blenden wir komplett aus, dass sie im zweiten und dritten Akt durchgängig die
Möglichkeit gehabt hätte, das Komplott zu offenbaren! Bei Judy handelt es sich also in Wahrheit
um eine eiskalt-berechnende Verbrecherin, die bei objektiver Betrachtung ihrer eigenen
Abgefeimtheit deutlich davon Abstand nehmen müsste, zu versuchen, dass jemand sie um ihrer
selbst willen liebt.
Das zeigt sich auch sehr schön in der Schlussszene, wo sie Scottie noch einmal triumphierend aufs
Brot schmiert, wie genau kalkulierend sie seine Schwäche ausgenutzt hat: „Das kannst Du nicht, Du
hast Angst!“, „Dein Unfall!“ und „Es gab nichts, was Du hättest beweisen können!“.
Außerdem wird durchgängig in der Literatur vergessen, dass Elster und Judy Scottie noch etwas
ganz anderes angetan haben: Madeleine war im McKittrick Hotel, denn wir haben sie gesehen. Die
lügende Concierge war also von Elster bezahlt. Für das Ziel, dass Scottie die Carlotta-Geschichte
glaubt, war es aber gar nicht nötig, ihm vorzumachen, er selbst sehe Gespenster, habe also seinen
Verstand verloren! Hier sind die Ränkeschmiede einen unnötigen Schritt zu weit gegangen.
Weniger verlorene Liebe und Schuldgefühle (er kann schließlich nichts für seinen Unfall und damit
Madeleines Selbstmord) sind es also, die Scottie in seinem Traum quälen. Dadurch dass er selbst
Madeleine im Hotel gesehen hat, er aber denkt, dass die nette alte Dame ihn doch wohl kaum
belogen hat, wurde seine Realitätswahrnehmung in zwei widersprüchliche Teile gespalten, daher
sieht man seinen Kopf (Verstand) im Traum plötzlich ohne Körper. Wie im wirklichen Wahnsinn,
bei dem das Gefühl sagt, ich sei Napoleon oder Cäsar, in meinem Ausweis aber auch für mich
verstandesgemäß-lesbar etwas anderes steht. Bei Scottie ist es nun umgekehrt: Sein Verstand kann
„nichts beweisen“, der andere Teil, das Gefühl, arbeitet aber unterbewusst weiter daran, dass etwas
nicht stimmt und kommt der Wahrheit dabei erschreckend nah, denn er sieht im Traum Carlotta im
Arm von Elster. Scottie aber hat so buchstäblich den Boden der Realität unter den Füßen verloren,
man hat ihn in den vermeintlichen Wahnsinn getrieben, daher landet er in der Anstalt.
Wenn die Figuren nicht von einer staatlichen Institution gestraft werden, sondern sozusagen vom
Schicksal, könnte das ein Hinweis auf eine Instanz in der Realität sein, die hinter dieser Art
Gerechtigkeit steckt.
Und tatsächlich finden sich Hinweise darauf, dass in unserem Leben noch ein ganz anderer
Regisseur am Werke ist: Schon Kilb (Seite 390) hat in den Spiralen im Vorspann die Galaxie
gesehen, der alte Jude Pop Leibl ist mit seiner Weisheit eine Anspielung auf das Alte Testament und
die Geschichte, in der eine auferstandene Person auf eine andere zugeht, kennen wir aus dem Neuen
Testament. Dort mit vertauschten Rollen, denn hier ist es Magdalena, die wieder auferstanden ist.
Dazu passen die gelb/ roten Kleiderkartons, die im Hotelzimmer liegen und die Tatsache aus der
Kunstgeschichte, dass Maria Magdalena üblicherweise in gelb/ rot dargestellt wird.
Wenn also Hitchcock ständig seine Schauspieler „Vieh“ nennt (Chandler, Seite 27), könnte das auch
eine versteckte Anspielung darauf sein, dass es seiner Meinung nach in der Realität einen
übergeordneten Regisseur gibt, für den wir Menschen die Schauspieler sind ...

7.
Das sexuelle Siegel
Unter all' diese Siegel hat der Meister noch eines gelegt, das bis heute völlig unentdeckt und
ungeöffnet geblieben ist: Wovon handelt Vertigo eigentlich?
Üblicherweise wird in der Literatur das sexuelle Begehren in Vertigo mit Madeleine in Verbindung
gebracht. Dabei wird völlig übersehen, dass es Midge ist, die Scottie ein erfülltes Sexualleben in
Aussicht stellt: Sie weiß, dass viele Männer ein Korsett tragen - wozu wohl? Sie sagt damit durch
die Blume, dass sie für jeden Fetischismus, auf den Scottie Wert legen würde, zur Verfügung steht.
Wenn es ihn glücklich machte, würde sie das Korsett tragen oder er dürfte es, völlig egal, weil sie
ihn liebt. Oder sie zieht ein Kleid aus der Kolonialzeit an, wie auf ihrem Bild, wenn es ihn glücklich
macht. Und sie bietet alle frivolen Rollenspiele an. Nach dem Besuch bei Pop Leibl fordert sie ihn
auf: „Bezahl mich!“, spielt also unverhohlen eine Prostituierte.
Und all' das ist für Scottie wertlos, denn es geht ihm nicht um Sex, es geht ihm um Liebe!
Leider liebt er Midge nicht, was diese weiß, denn deshalb hat sie die Verlobung gelöst.
Im ersten Augenblick verliebt er sich in Madeleine, das verrät die Musik. Und jetzt kommen sich
Liebe und Sex in die Quere, denn es gibt einen missglückten Geschlechtsverkehr, der uns so
offensichtlich vor die Augen gehalten wird, dass wir ihn nicht sehen!
Aber wo bitte sehen wir in Vertigo einen Geschlechtsverkehr?
Der „Coit-Tower“ (coitus = lateinisch: Sex) im Hintergrund von Scotties Fensteraussicht schreit es
heraus: „Geschlechtsverkehr – Turm“!
Den Geschlechtsverkehr sehen wir also symbolisch im Turm! Scotties Unvermögen, die Spitze zu
erreichen, ist das Unvermögen, Madeleine zu einem Orgasmus zu bringen, der von einem Fall
symbolisiert wird. Hier aber fällt nicht Madeleine, sondern die tote Frau Elster, der Schrei von
Madeleine ist somit das Vortäuschen eines Orgasmus. Anders als Elster (der die ganze erste Szene
hindurch agiert wie ein erigierter Penis) hatte Scottie also nicht „the power (= die Potenz) and the
freedom“ (Freiheit vom weiblichen Begehren, also der weibliche Orgasmus).
Daher wird in der Tribunalszene so quälend darauf herum geritten, dass er eine „Schwäche“ hatte.
Diese Schwäche ist eine Impotenz (wohl weniger eine erektile Dysfunktion als eine ejaculatio
präcox, denn dafür sprechen die Röcke im Turm: Enger Rock = enges weibliches Geschlechtsteil,
Überreizung, Mißgeschick. 2. Fall: weiter Rock = alles im Lot).
Aber wann und wo findet der Geschlechtsverkehr, den wir symbolisch im Turm sehen, in der
Handlung statt?
Vielen Interpreten (etwa Kilb, Seite 394) ist aufgefallen, dass auf der Fahrt zum Turm auf der
linken Straßenseite gefahren wird. Wer hier an einen Fehler glaubt – der auch noch zwei Mal
vorkommt – kennt den Meister nicht. Das ist kein Fehler, das besagt, dass die Zeit jetzt rückwärts
läuft! Wir sehen also im Turm den Geschlechtsverkehr noch einmal, der vorher stattgefunden hat,
und zwar an der Küste, wo die gegen die Felsen schlagenden Wellen den Geschlechtsakt angedeutet
hatten. Der Beweis für den Geschlechtsverkehr an dieser Stelle ist das Kleid mit dem eckigen
Ausschnitt, das er nur hier gesehen haben kann, als er ihr Mantel und Halstuch ausgezogen hat.
Und dann sehen wir in der Schlussszene symbolisch einen geglückten Geschlechtsverkehr, denn
hier fällt und schreit die Frau selbst. Es ist dies der Geschlechtsverkehr, der vorher im Hotelzimmer
stattgefunden hatte: Auf der Fahrt zum Turm wird die Filmzeit wieder zurück gedreht, das besagt
wieder die linke Straßenseite.
Das Missglücken des ersten Geschlechtsverkehrs hat zwei Gründe: Auf der Seite von Madeleine ist
es Onanie. Der Blumenstrauß vertritt die weibliche Vagina, daher liegt er auf dem Bild in der
Galerie in Carlottas Schoß. Unter der Golden Gate Bridge zerpflückt Madeleine ihn, schändet ihn
also mit der Hand, was auf Latein „manu sturbare“ heißt: „masturbieren“. Ihr Fall ist also ein selbst
herbeigeführter Fall, nämlich ein Sprung, ein selbst herbeigeführter Orgasmus. Scottie versucht
also, eine bereits selbstbefriedigte Frau zu befriedigen, was natürlich nicht funktionieren kann.
Auf der Seite von Scottie lag ein Trauma vor: Dazu müssen wir seine Hängepartie in der Rooftop-
Szene um 90 Grad drehen und ungenauer hin sehen. Die Laufrichtung war von rechts nach links,
also gegen den Uhrzeigersinn, die Zeit wurde zurück gespult, wir sind in der Kindheit: Drei Jungen
spielen Räuber und Gendarm. Der mit der Schirmmütze (ein bei Homosexuellen beliebtes
Accessoire) kommt auf die Idee, den Schwächeren anal zu vergewaltigen, was übrigens in
viktorianischen Internatsschulen mehr als denkbar ist.
Der Vergewaltiger schreit und fällt, hat seinen Orgasmus, das Opfer bleibt hilflos zurück. Er ist im
übertragenen Sinne „zur Frau gemacht“ worden, das ist der tiefere Grund für das Korsett.
Wie Scottie von der Regenrinne kommt, ist also auch geklärt: Es ist völlig irrelevant.
Das Glücken des zweiten Geschlechtsverkehrs hat viele Gründe, u.a. ganz handgreifliche: Wir
stellen uns vor, die Personen treffen sich nach längerer Zeit im Leben, der erste GV hat in der
Teenagerzeit stattgefunden, der zweite 10 Jahre später. Die Reizbarkeit des männlichen
Geschlechtsteils hat naturgemäß abgenommen, das weibliche ist nicht mehr so eng, das ständige
weibliche Onanieren hat aufgehört.
Psychisch hat die Frau ihre Vater- (Elster-)Bindung gelöst, sie muss nicht mehr seine anständige
Tochter sein, die keine Lust empfinden darf (Das berühmte: „Ich lass' los, lass' jetzt los“ aus
„Frozen“), sie kann sich einem anderen Mann hingeben, weil sie nicht mehr unehrlich ist. Sie
benötigt kein überlegenes Wissen mehr (Im Sinne von „Fifty shades of grey“ formuliert, ist sie jetzt
bereit, sich dem Manne zu unterwerfen).
Der Mann hat nun Selbstbewusstsein getankt, u.a. durch eigene Werke. Scottie persönlich
betreffend dürfen wir nicht vergessen, dass er soeben den größten Wunschtraum der Menschheit
verwirklicht hat: Er hat einen geliebten toten Menschen zum Leben erweckt! Mehr power kann
niemand haben! (Apropos: Die „Scene d'amour“ heißt genau deshalb nicht „Scene d'obsession“,
weil es um Liebe geht. Wir können also das Besessenheitsgeschwafel in der Vertigologie vielleicht
endlich mal begraben).
Außerdem hatte Scottie zum Zeitpunkt des missglückten Geschlechtsverkehrs keine gedankliche
Herrschaft über das Geschehen: Objektiv war er nur Marionette in einem teuflischen Spiel,
subjektiv wusste er nicht, was mit Madeleine los ist. Das hat sich jetzt geändert: Er weiß alles über
Judy (sogar die Nummer ihres Führerscheins), und hat damit die Überlegenheit, die für das
Gelingen des Aktes erforderlich ist.
Wichtig leider auch: Die sozialen Verhältnisse haben sich umgekehrt. Während Madeleine sozial
über ihm stand (witzigerweise ja nur in seiner irrigen Vorstellung, trotzdem ist der Sex in die Hose
gegangen), steht Judy sozial unter ihm.
Wieso hört sich das alles an wie ein sexualwissenschaftlicher Aufklärungsfilm?
Weil „Vertigo“ einer ist!
In den 50er Jahren war es u.a. wegen des Hays-Codes unmöglich, die Dinge wie hier im Text beim
Namen zu nennen, schon deshalb kam nur die symbolische Darstellung in Frage. In „Vertigo“ geht
es also auch um die Feststellung, dass Liebe und Sex nicht eins sind, sondern sich im Gegenteil
behindern oder sogar ausschließen können, weil problematische Vorbedingungen wie z.B. Onanie/
Unehrlichkeit und Traumatisierungen den Letzteren scheitern lassen können – wobei die Liebe
dagegen unbeschadet sogar den Tod überlebt!
Es geht in Vertigo hinter allen Fassaden also auch um den problematischen Sex im Turm.
Darum ist „Coit-Tower“ (Wertticoo) ein Anagramm aus „Vertigo“!
Verantwortlich für die Ausarbeitung der Sexualaufklärung im Film war der Drehbuchautor Samuel
Taylor, der bezeichnenderweise auch die Figur der Midge erfunden hat. Taylor war ein
Sexualaufklärer, der schon 1952 mit dem Film „Mein Sohn entdeckt die Liebe“ pubertierenden
Jugendlichen der 50er Jahre durch die Blume das Thema näher gebracht hat. Vertigomäßig
symbolisiert dort z.B. ein entflogener Käfigvogel den Orgasmus. Der Vater klärt hier den Sohn
behutsam auf, dass die Lust nun nicht für alle Zeiten weg ist: „Der kommt wieder!“ (Amerik.
Original bei Youtube).
Der Meister hat uns also seinen größten Streich gespielt: Während wir über „unknowingness“ und
„klein a“ philosophieren, sollte „Vertigo“ einfach älteren Jugendlichen und Erwachsenen Probleme
beim Sex darstellen und Lösungen aufzeigen. Während ein Pornofilm nur nackte Haut zeigt, zeigt
Vertigo alle Bedingungen eines missglückten und eines geglückten Geschlechtsverkehrs, die
technischen, die körperlichen, die bewussten, die unbewussten und die sozialen. Vertigo ist also
auch – mal ganz merkfähig formuliert – eine „Schule des Fickens“.
Daher ist „Scottie“ ein Anagramm aus „coites“, lateinisch für: „Du hast Geschlechtsverkehr“ und
die Hauptdarstellerin heißt: „No-fuck“.

8.
Fazit
Die getrennte Betrachtung der sieben Siegel war natürlich eine künstliche: Im Film sind alle
Deutungsansätze organisch miteinander verbunden. Wie in der Realität!
Ist der Film nun, nachdem die sieben Siegel aufgebrochen sind, ohne Interesse? Im Gegenteil! Alle
oben im Text ungenannten Details können beim nächsten Sehen genauer gesehen und i.o.g. Sinne
gedeutet werden: Der Besenstiel in der Kaminszene ist zunächst blau, nachdem Madeleine ihre
Kleider von ihm genommen hat, rot. Wo gibt es in der Literatur einen Johannes ohne Kopf? Was
symbolisieren Schallplatte und Tonabnehmer-Nadel, was soll das „L“ vor Elsters Werft, wie passte
der grüne Bus ins Bild, was symbolisiert der Hintereingang bei Podesta Baldocchi etc.pp.?
„Vertigo“ liefert mit dem Vertigo-Effekt nicht nur das Werkzeug für seine Selbst-Entsiegelung,
sondern auch zur Entsiegelung aller anderen Filme und aller Kunst.
Kunstwerke, bei denen die Technik des Gleichzeitig-genauer-und-ungenauer Sehens nicht zu einem
tieferen Sinn führt, sind ja vielleicht gar keine Kunst, sondern nur Literatur oder Journalismus?
Gleichzeitig liefert Vertigo das Werkzeug für die Entschlüsselung des Lebens. Nach innen geht es in
die tiefsten Tiefen der Seele, nach außen geht es bis über den Rand der Galaxie hinaus.
Nicht nur, weil es ein Kunstwerk mit sieben Bedeutungsebenen ist, ist Vertigo das zweitgrößte
Kunstwerk aller Zeiten, sondern auch, weil er uns das Werkzeug für die Entsiegelung unserer
eigenen Träume und Traumata liefert! Und als diese ungeheure Befreiungsleistung der Menschheit
hat er allen Respekt verdient. Also auch, dass man ihn unkopiert lässt.
Zudem wäre ich vorsichtig: Dafür, dass auch im wirklichen Leben ein Regisseur uns narrt, spricht
die Tatsache, dass sich die Symbolik aus dem Film eins zu eins in der Realität wieder findet: Die
Golden Gate Bridge gehört im Film zur Symbolfamilie der Frau (waagerecht, Gleichsetzung mit
dem freitragenden BH) und ist tatsächlich rot. Amerikanische Briefkästen waren oben rot und unten
blau, so auch der vor der Anstalt, in der Scottie sitzt, der Körper in die Realität gefallen, der Kopf
immer noch mit der Liebe beschäftigt. Alle Schilder in der Realität („One Way“, „Fire Escape“)
passen umgekehrt nahtlos in die Deutung des Films, der Meister selbst musste sich zur Zeit der
Filmschaffung einer Leistenbruch-OP unterziehen, engl. „Hernia“, ähnlich „Ernie's“. Der Film ist
also auf merkwürdigste Weise eingebettet in die Realität …
Daher plädiere ich dafür, die Finger von ihm zu lassen!
Wenn ich „Vertigo“ sehen will, kann ich ihn ja sehen, ich brauche keine Kopie.
Wenn Sie, Lieber Leser, nicht meiner Meinung sind und auch sonst meine Ausführungen für weit
hergeholten Unsinn halten, so machen Sie mir das denkbar größte Kompliment, denn das war
wörtlich das Urteil der Kritik über „Vertigo“ („farfetched nonsens“, so John McCarten in The New
Yorker vom 07.06.1958, zitiert nach Auiler, Seite 173)!
Literatur:
– Donald Spoto: Die dunkle Seite des Genies, Taschenbuchausgabe, München, 1986
– Charlotte Chandler: Hitchcock, München, 2005
– Alexander Kluy: Alfred Hitchcock, Ditzingen 2019
– Slavoj Zizek: Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen
wagten, Frankfurt, 2002
– Robin Wood: Hitchcock's Films revisited, Paperback-Ausgabe, London, 1991
– Tania Modleski: Weiblichkeit durch Design, in: Von den Frauen, die zu viel wussten, New
York, 1989, zitiert nach einem DinA 4 Internet-Ausdruck des Aufsatzes
– Andreas Kilb: Vertigo, in: Lars-Olav Beier/ Georg Seeßlen: Alfred Hitchcock, Berlin 1999
– Dan Auiler: Vertigo, The making of a Hitchcock classic, London, 1989

© Fiona G. Schott

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